die ärzte sind zurück! Nach 8 Jahren meldet sich die beste Band der Welt endlich mit ihrem neuen Album HELL zurück. Neben den üblichen Streamingangeboten, gibt es HELL auch physisch im wertigen Hardcoverbuch mit 64-Seiten-Booklet, sowie zahlreichen Übergängen und Hörspieleinlagen zwischen den Songs. Es wären nicht die ärzte, wenn sie nicht noch eine schrullige Besonderheit eingebaut hätten: die Vinyl ist ganze 181 Gramm schwer – also ein ganzes Gramm schwerer als die übliche Heavy-Weight LP. Eine Premiere in der Tonträgergeschichte. Wir haben uns das gute Stück einmal angehört. Können die 18 (!) Tracks mit ihren großartigen Vorgängern von “Zu Spät” über “Bravopunks” bis “Schrei nach Liebe” mithalten?
Als kleine Belohnung für euch, unsere lieben Leser, verlosen wir sogar eine ganze HELL Vinyl inklusive aller 18 Songs! Mehr dazu gibt es HIER. Doch jetzt erstmal viel Spaß mit unserer Track by Track-Review von HELL!
E.V.J.M.F.
die ärzte schockieren ihre Fans mit einem Sound, den man so noch nicht von der Band gehört hat. Das Trap-Intro von Rodrigo Gonzàles bedient wohl alle Klischees des Genres inklusive mit Autotune verzerrten Vocals von Farin Urlaub. Tatsächlich steht der Effekt dem Sänger überraschend gut, während die Lyrics ärzte-typisch klamaukig daherkommen. Wer nicht spätestens (!) bei “Die Ärzte 1.0 – jetzt endlich auch in Stereo” lacht, hat niemals Humor besessen. Vielleicht dann bald in der Modus Mio-Playlist.
PLAN B.
Nach dem für den Punk-Fan eher verstörenden Einstieg, legen die ärzte mit einem typischen Rockkracher aus der Feder Farin Urlaubs nach. “PLAN B” besticht mit fröhlich-kraftvollem Sound und der Ansage: “Bisher hatte ich keine bessere Idee, dies ist mein Leben – es gibt keinen Plan B”. Der Song macht Spaß, ist aber doch ein wenig zu gewohnt vom Sound her.
ACHTUNG: BIELEFELD
Die treibende Midtempo-Nummer von Bela B. hält das Energielevel der Platte wunderbar hoch. Das Statement für Langeweile könnte der Soundtrack eines potenziellen Corona-Lockdowns sein. Die Zeile: “Ich denke, dass eine Mutter in Aleppo sich auch ganz gern mal langweilen würde?!!I” verleiht dem Track eine gehörige Prise Sozialkritik, die dem Song noch mehr Tiefe gibt, aber auch mit dem erhobenen Zeigefinger daherkommt.
WARUM SPRICHT NIEMAND ÜBER GITARRISTEN?
Kann man den Song schon als Rockoper bezeichnen? Vielleicht nicht ganz, aber “WARUM SPRICHT NIEMAND ÜBER GITARRISTEN?” ist ein ordentliches Brett und wahrscheinlich einer der musikalisch abwechslungsreichsten Tracks auf dem ganzen Album. Im Text übt Farin Urlaub auf humoristische Weise Kritik am Medienkonsum: “Sie diskutieren heftig, sie schreien unentwegt / was stand heut in der Zeitung? Was hat sie aufgeregt? / Ist jemand auferstanden? Hat wer wen umgelegt? / Nein: Alle reden drüber, was Beyoncé morgen trägt”. Ein echtes Schmankerl für die Ohren sind die Vocals im letzten Chorus. Der Herr Urlaub kann doch ganz schön singen zwischen all dem Geschrammel!
MORGENS PAUKEN
Der Song ist eine der wenigen Kollaborationen von Rodrigo Gonzàles und Bela B. auf dem Album. Ja, das Punk-Thema ist echt schon durch, aber irgendwie verzeiht man das alleine schon bei der Vorstellung irgendwann einmal in einer ausverkauften Halle die “DU BIST PUNK!”-Stelle mit zu brüllen. Im Kontext des Albums erschließt sich die Auswahl dieses Songs als erste Single: es ist das einzige Lied, auf dem alle drei Bandmitglieder gesanglich vertreten sind und ballert dazu noch ordentlich. Das Riff brennt sich regelrecht ins Hirn ein. Eine starke Comeback-Single der besten Band der Welt.
DAS LETZTE LIED DES SOMMERS
Auch mit dem sechsten Albumtrack gibt es noch keine richtige Verschnaufpause. Dafür wird es deutlich entspannter. Der Surfrocksong “DAS LETZTE LIED DES SOMMERS” besingt im Beach Boys-Style den Eskapismus und ist wohl DIE Hymne gegen die aufkeimende Winterdepression. Die Nummer ist der radiotauglichste Track auf dem Album, erinnert aber auch stark an “Westerland” oder “Ein Sommer nur für mich”. Auffallend am Text ist die erste Zeile: “Der Himmel ist so grau” – gab es da nicht mal einen die ärzte Song, der genau das Gegenteil von Eskapismus thematisierte, nämlich die Aufbruchstimmung in ein neues Abenteuer? Und der startete wie? Genau, mit “Der Himmel ist blau”. Zufall?
CLOWN AUS DEM HOSPIZ
Die melodiöse Bela B.-Nummer ist wohl eine seiner stärksten auf HELL. Im Text besingt der Schlagzeuger das Leid des Künstlers, der nur in der Dunkelheit zu leuchten scheint: “Doch tränenreich, so wirst du trotzdem durch dein Leben gehen / und was aus deinem Leid entsteht, wird dennoch wunderschön / deine Kunst ist tragisch – außergewöhnlich gut / voll von Liebe, echtem Leid und aufrichtiger Wut”. Dass dieser Zustand mit der Zeit den Menschen zerstört, wird von den Konsumenten in Kauf genommen: “Du bist allein / hast bald schon keinen Saft mehr / so muss es sein.” Die besondere Kombination der Melancholie des Texts mit dem “Gute-Laune-Sound” der Musik hebt das Stück auf eine Ebene mit Bela B.-Meisterwerken wie das “Lied vom Scheitern”.
ICH, AM STRAND
Mit lockerem Reggae-Vibe durchlebt der Hörer die einzelnen Stationen eines vermeintlich erfolgreichen Lebens: “Ich in der Schule, erster Tag, ich mit der Lehrerin, die ich mag / ich an der Tafel – ABC, erstes Zeugnis ganz ok”. Doch kurz nach dem BWL-Studium nimmt der Text eine tragische Wendung, die den sommerlichen Popsound des Tracks regelrecht grotesk wirken lässt. Ein unfassbar starker Song, der nicht nur durch seine Anaphern glänzt.
TRUE ROMANCE
Die zweite Singleauskopplung fügt sich hier perfekt in das Album ein. Leider überzeugt der Text nicht wirklich, geht dem Alexa-Witz doch schnell die Luft aus. Die Musik macht dies aber fast wett: eine eingängige Melodie gepaart mit lockerem Discobeat und sommerlichen Flamencogitarren. Es wundert nicht, dass die ärzte mit “TRUE ROMANCE” ihre fünfte Nummer 1 feiern konnten, obwohl das Stück im Vergleich mit den restlichen Tracks auf HELL eher schwach ist.
EINMAL EIN BIER
Nach seinen zwei recht ernsten Songs sorgt Bela B. nun für ein humoristisches Highlight auf HELL. Wer sich schon mal gefragt hat, wie es so wäre, ein Bier zu sein, bekommt hier eine Antwort: “Ich tropfte in ein undurchdringliches Dunkel / das mich dann auch vollständig verschlang”. Genial auch die theatralischen Backgroundvocals von Farin Urlaub. Eine Glanzstunde des Surrealismus!
WER VERLIERT HAT SCHON VERLOREN
Es gibt ihn tatsächlich, den Hänger des Albums. Nach doch sehr abwechslungsreichen Songs kommt mit “WER VERLIERT HAT SCHON VERLOREN” eine eher langweilige Rockhymne à la Die Toten Hosen daher. Der Track liefert weder textliche noch musikalische Highlights und verblasst schnell nach dem Hören.
POLYESTER
Musikalisch geht es auf der Platte mit einem neuen Genre weiter: “POLYESTER”, geschrieben von Rodrigo Gonzàles, geht deutlich in Richtung New Wave. Die Nummer besticht aber vor allem durch ihren außergewöhnlichen Text über die Mikroplastik-Problematik: “Skelett aus Elasthan / in den Adern fließt Polymethan / ich fühle mich so fremd / im Polyester-Zombiehemd”.
FEXXO CIGOL
Ein Song über Verschwörungstheorien wie er passender nicht sein kann. Der Bela B.-Track mit dem eigensinnigen Titel ist so kurios, wie viele Theorien, die durchs Netz geistern. Musikalisch sind die Strophen etwas schleppend und ziehen sich daher doch ein wenig, dafür punktet der melodiöse Chorus. Herausragend an dem Song ist aber vor allem die Gesangsleistung von Bela B., der den humorigen Text wunderschön verschroben vorträgt. In Zukunft können wir uns wohl viele ermüdende Diskussionen in den sozialen Medien ersparen, indem wir einfach diesen Song verlinken. Wie praktisch!
LIEBE GEGEN RECHTS
Es gibt wahrscheinlich nur eine Band auf diesem Planeten, die ein Lied mit “Meine Freundin war einmal / für eine Weile rechtsradikal” beginnen kann. Der naiv-fröhliche Ausreißer in die Welt der Countrymusik besticht vor allem mit seinem wunderschön albernen Text, erinnert dabei aber stark an Songs wie “Meine Freunde” oder “N48.3”. Ob der Protagonist ein unfassbar schlechtes Händchen bei der Partnerwahl hat oder ein und dieselbe Dame rechtsradikal, Kleptomanin und transgender ist, geht aus dem Text leider nicht hervor.
ALLE AUF BRILLE
Es ist nur logisch, dass nun ein Oi!-Punksong folgt! Leidenschaftlich brüllend zollt Bela B. dem Oi-Genre Tribut. Dabei verstellt der Sänger/Schlagzeuger so geschickt seine Stimme, dass er kaum zu erkennen ist. “ALLE AUF BRILLE” ist beim Durchhören des Albums aufgrund des schief-schrägen Gesangs etwas anstrengend, wird aber wahrscheinlich bei den Live Shows im nächsten Jahr seine wahre Wirkung entfalten.
THOR
Ein alberner Spaß-Rocksong aus der Feder Farin Urlaubs über Gewichtszunahme. Musikalisch ist der Song solide, bietet aber kaum Neues und auch textlich gehört “THOR” zu den schwächeren Nummern auf HELL – auch wegen des recht banalen Themas.
LEBEN VOR DEM TOD
Was fehlt noch auf dem Album? Richtig: die Ballade! Und die hat es in sich. Farin Urlaub hat uns ja schon mit dem ein oder anderen Liebeslied zu Tränen gerührt, aber “LEBEN VOR DEM TOD” legt die Latte noch mal höher. Musikalisch reduziert, steht hier der verletzliche Gesang im Mittelpunkt. Darin schwingt ein Potpourri an Emotionen von Verlustangst, Resignation bis Hoffnung mit. Die besondere Stärke der rührenden Ballade ist aber, dass sie eine Projektionsfläche für eigene Interpretationen bietet. Die Ungewissheit, ob der Protagonist mit seiner großen Liebe vereint ist oder nach einer Vereinigung im Tod strebt, macht den Song noch berührender. Der Übergang zum nächsten Track “WOODBURGER” ist regelrecht brutal, weil man ziemlich krass aus der eigenen Gedankenwelt gerissen wird. Eines der stärksten Stücke auf HELL.
WOODBURGER
Der wütende Rocksong kommt wohl mit der überraschendsten Wendung auf dem ganzen Album daher. Das politische Statement auf dem Album (“Was haben Boko Haram gemein mit rechtspopulistischen Volksparteien? Ohne Angst und Hass können sie nicht überleben”) spielt gekonnt mit den Ängsten der AFD und schlittert dabei fast über die Grenzen der Political Correctness. Der großartig funkige Pornosound im Refrain setzt dem ganzen noch die Krone auf.
die ärzte - HELL
Unser Fazit
Man merkt der Platte definitiv an, dass die ärzte während der Corona-Pandemie wenig Ablenkung hatten und viel Liebe und Arbeit in das Album stecken konnten. Es gibt kaum ein die ärzte-Album, das so eine Bandbreite an Instrumenten auffährt. Wer hier das typische 3-Mann-Band-Geschrammel erwartet, wird angenehm überrascht sein. Bei vielen Songs spürt man aber auch, dass sie im Live Setting richtig für Spaß sorgen werden (z.B. “ALLE AUF BRILLE”).
Die große Stärke von HELL ist aber vor allem, dass die ärzte nicht verzweifelt versuchen, sich zu kopieren, sondern an vielen Stellen auch neue Wege gehen. Dabei holt HELL nicht nur die Gelegenheitshörer ab, sondern auch die Hardcore-Fans, die auf dem Album viel entdecken können. Es gibt etliche Zitate und Referenzen von älteren die ärzte-Songs und -Sounds: “Dieses faltige Fleisch, diese hängende Pelle / – mein Kollege sang darüber mal an anderer Stelle – / ich krieg schon Herpes, wenn ich nur daran denke” (“WOODBURGER”).
Nichtsdestotrotz hat HELL auch seine Schwachstellen. Einige der Songs, wie “PLAN B”, “WER VERLIERT HAT SCHON VERLOREN” oder “THOR” reichen qualitativ nicht an den Rest der Platte ran. Bei “PLAN B” muss man allerdings sagen, dass der Song mit seinem typischen Ärzte-Sound wichtig für den Einstieg in das Album ist. Zusammenfassend kann man durchaus behaupten, dass die ärzte trotz einiger Schwächen mit HELL ordentlich abgeliefert haben. Das Album klingt wie ein die ärzte-Album statt einer Sammlung von Solosongs der drei Bandmitglieder. So taucht beispielsweise die Stimme Farin Urlaubs immer mal wieder im Background der Bela B.-Songs auf. HELL ist eines der stärksten Alben der Band und macht einfach Spaß beim Hören. Ein gelungenes Comeback der besten Band der Welt!